Piraten, Zensursula und 30 Prozent – Ein Interview mit Steffen Reiche (SPD) #btw

schneeengel

am sonntag wird der neue bundestag gewählt. ich hab meine stimmen schon abgegeben und bleibe bei meiner meinung, dass die beiden “großen” volksparteien cdu und spd für mich unwählbar waren/sind. zumindest, was die zweitstimme angeht. warum? parteien, die meinen mit einem stoppschild die kinderpornografie im internet unterbinden zu können halte ich einfach für lächerlich und leichtgläubig. viel wichtiger wäre es, die hintermänner zu ermitteln und zur verantwortung zu ziehen, als zu denken, dass irgendwer, der sich diesen schmutz angucken will, von einem stoppschild davon abgehalten werden kann.

vier abgeordnete der beiden parteien haben gegen das gesetz “gegen kinderpornografie im internet” gestimmt. darunter jörg tauss, der inzwischen ja mitglied der piratenpartei ist. bei meinem interview mit ihm im vorfeld der abstimmung brachte er mich auf eine gute idee. er sprach davon, dass man nicht jeden abgeordneten der beiden parteien über einen kamm scheren sollte und vielleicht genau die unterstützen sollte, die trotz parteizugehörigkeit gegen das gesetz stimmen. und wie unterstützen? klar, ganz einfach, in dem man der person zum beispiel die erststimme gibt.

tauss hatte ich ja schon im vorfeld interviewt – und außerdem ist er ja nun kein spdler mehr. die anderen drei habe ich angeschrieben mit der bitte um ein interview. jochen borchert von der cdu in nordrhein-westfalen reagierte nicht auf meine mail, wolfgang wodarg von der spd versucht noch bis sonntag zu antworten und steffen reiche lud mich direkt in sein bundestagsbüro ein.

zur person: steffen reiche ist 1960 in potsdam geboren, ist verheiratet, hat drei töchter, ist theologe und war von 1994 bis 2004 minister in brandenburg. er tritt im wahlkreis 64 (Cottbus-Spree-Neiße) an.

wie sieht ihre persönliche affinität zum internet aus?

mit einigem stolz kann ich sagen: ich war der erste minister deutschlandweit, der mit einer eigenen internetpräsenz des ministeriums im netz gewesen ist. das war 95 oder 96,zu dem zeitpunkt kam das ja gerade auf. ich hab mit meinen kollegen die chancen gesehen und wir haben gesagt, wir werden das machen! ich hab allerdings, muss ich für mich zugeben, mit den möglichkeiten dann nicht mehr 1:1 schritt gehalten. ich freu mich jetzt, dass ich ein internetfähiges handy habe, in so fern ist es jetzt viel regelmäßiger geworden mit internetarbeit und zugang. bei twitter und facebook bin ich noch nicht mit dabei – will das aber demnächst ändern.

warum haben sie gegen das gesetz gestimmt?

der hintergrund war, dass mich von anfang an geärgert hat, das zum einen die, vor denen die wand bzw. das stoppschild gezogen werden soll, das so problemlos überwinden können. und dass es für mein empfinden deshalb eher symbolische politik gewesen ist. die, die wirklich kriminell sind und zugang zu den seiten haben wollen, die wissen nicht nur, wo das zeug zu bekommen ist, sondern auch wie sie das stoppschild umgehen können. zweiter punkt – der dann auch von der spd ausgeräumt wurde – ist, dass die sache ja zwischenzeitlich auch mal strafrelevant sein sollte. der dritte ziemliche wichtige punkt für mich war, dass es eine so große welle gab, wie ich sie selten erlebt habe. es gab die größte bisherige online-petition und auch im wahlkreis eine reihe von menschen die mir wichtig sind, die an der stelle ganz deutlich gesagt haben: “das wäre uns jetzt wirklich wichtig! du bist unser abgeordneter, wir wollen das nicht akzeptieren!” zugleich gab es eine dichte an reaktionen auf mein abstimmungsverhalten, wie ich es auch nocht nicht erlebt habe. viel zustimmung, dankbarkeit und auch sympathie. ich halte das gesetz für schlecht – für symbolische politik. ich glaube, dass es für eventuell zukünftige koalitionen auch ein einstieg für weitere internetzensur werden könnte. außerdem kann die technologie, die dafür entwickelt und bereitgestellt wird, auch von anderen in ganz anderem umfang benutzt werden. somit hat diese symbolische politik durchaus reale folgen, die ich so nicht akzeptiere und will.

wie könnte eine alternative zu dem gesetz aussehen?

man sollte den druck auf die provider verstärken, dass die inhalte gelöscht werden und zugleich den verfolgungsdruck weiter hoch halten und wenn möglich sogar noch erhöhen. ich muss zugeben, selbst wenn ich so eine veranlagung hätte, wäre mir das risiko schon jetzt viel zu hoch, aufzufliegen. insofern: wer sich noch einen hauch von rationalität bewahrt hat – trotz dieser veranlagung – lässt die finger von solchen seiten im internet. deshalb finde ich es gut, dass es zum beispiel in der berliner charité nicht nur kurse gibt, um mit der pädophilen veranlagung umzugehen, sondern auch zugleich eine internet-pornografische-sucht behandelt wird. auch das ist eine sinnvolle antwort.

was haben ihre parteigenossen zu ihrer gegenstimme gesagt?

ich hab das schon vor der abstimmung angezeigt. es waren ja auch nur ganz wenige abgeordnete der spd (tauss, wodarg, reiche), die dagegen gestimmt haben. tauss gehört sowieso nicht mehr zur fraktion und wodarg gehört zu denen, die ständig irgendwo nein sagen. wir können uns praktisch immer rund 80 nein-stimmen leisten. das geht in einer kleinen koalition nicht. und deshalb hat man glaube ich auch akzeptieren können, dass ich in dem fall für mich einen anderen weg wähle. es gab eine reihe von kollegen – die ich jetzt nicht namentlich benennen will – die gesagt haben: “ach ich hätte das mal auch machen sollen”. und es gab eine reihe von kollegen, die haben danach – als sie dann auch gesehen haben, dass in ihren wahlkreisen reiche oder wodarg als leuchtende vorbilder genannt wurden – gesagt haben: “ich hätte vielleicht auch sinnvoller weise diesen weg gehen können und sollen”. ich hätte mir gewünscht, dass wir hier dem koalitionspartner auch deutlich die stirn gezeigt hätten. schließlich hat die cdu/csu geschlossene konsense an anderen stellen ja auch aufgekündigt (zum beispiel beim ccs-gesetz). insofern sind wir da ohne not eingeknickt. es gab die sorge, dass die cdu uns dann als unterstützer von kinderpornografie hingestellt hätte. ich glaube, dem hätte man gut paroli bieten können. frau von der leyen hat sich damit nicht nur einen neuen namen gesichert, der bleiben wird. sondern sie hat sich damit völlig entzaubert. ihre guten dinge sind alle geklaut. renate schmidt sagt nicht zu unrecht: “alle ideen von frau von der leyen haben zwei mütter. eine, die bei der zeugung dabei gewesen ist und eine, die bei der geburt dabei gewesen ist. ich war bei der zeugung dabei und hab mehr spaß gehabt!”

hätten sie denn in einer “kleinen koalition”, wenn man sich nicht 80 nein-stimmen hätte leisten können, anders gestimmt?

in einer kleinen koalition hätte es ein solches, schlechtes, überflüssiges gesetz nicht gegeben. ich halte es nicht für denkbar, dass uns die liberalen, grünen, die linke uns zu so etwas gezwungen hätte.

was halten sie persönlich von ihrem ex-parteigenossen jörg tauss?

bis zum beweis des gegenteils gehe ich davon aus, dass ihm schweres unrecht zugefügt worden ist. er hat da was falsch gemacht, das ist richtig. es ist die frage, ob eine staatsanwaltschaft eine biografie so zerstören muss, wie in dem fall geschehen. und ob sie nicht in anderer, besserer weise mit wissen von tauss einen weg hätte finden können. so haben sie wissentlich eine biografie zerstört und kommen vielleicht nach zwei oder drei jahren da drauf: ist nichts dran. ich bin experte da drin. nach dem eine stewardess behauptet hatte, ich hätte ihr ein bein gestellt, hat die staatsanwaltschaft jetzt, nach zweieinhalbjähriger verfolgung, auf freispruch plädiert. ich glaube auch, dass man in der fraktion mit ihm hätte fairer umgehen können. leider hat er nach dem unrecht, was ihm passiert ist, nicht standgehalten, den organisierten absturz selbst noch beschleunigt, weil er von seiner seite aus verrückt gespielt hat. ich meine, nach zwei oder drei jahren oder einem freispruch hätte es ja sein können, dass er voll rehabilitiert wird. das hat er sich nun selber verwehrt. aber ich ahne auch, was er gelitten hat und was er auch noch leiden wird. es gibt wenige, die so mit leidenschaft politik gemacht haben. mit so viel erfolg dinge in bewegung gehalten haben, wie er.

was halten sie von der piratenpartei?

ihre ziele kann ich im großen und ganzen unterstützen und nachvollziehen. es gibt ganz vieles, was ich für vernünftig halte. es gibt viele gute – an sich sozialdemokratische – dinge. und in sofern bedauere ich, dass es noch einmal mehr eine untergruppierung in der spd gibt. denn die grünen, die linke und große teile der cdu sind sozusagen fleisch von unserem fleisch. es gibt eine sozialdemokratisierung der gesamten bundesrepublikanischen politik. es gibt leute, die das beklagen – wie die liberalen oder der deutsche industrie- und handelstag. ich stelle das fest und beklage das auch, allerdings aus kontrairen gründen. man muss sich natürlich fragen: wem nutzt das wirklich? wenn alle die sozial und demokratisch – oder gar sozialdemokratisch – denken, ihre eigenen parteien aufmachen, wird die sozialdemokratie nicht regierungsfähig. und das stärkt genau die leute, die man verhindern will.

welche rolle spielt der internetwahlkampf jetzt und welche wird er bei der nächsten oder übernächsten bundestagswahl spielen (können)?

wir haben in den letzten jahren immer wieder eine amerikanisierung der wahlkämpfe gehabt. also das heißt, das internet wird in diesem wahlkampf eine größere rolle spielen als je zuvor und wird bei den nächsten wahlen kontinuierlich wachsen. ich denke das internet ist eine möglichkeit der information, die stetig wachsen wird, weil die, die mit dem internet groß geworden sind, eine immer größere gruppe werden. ich glaube, dass es in den nächsten jahren vermutlich keine form der abstimmung werden wird. sondern dass es viel mehr darum gehen muss, volksentscheide mit aufzunehmen ins grundgesetz. das ist die politische aufgabe. das internet als wahlkampfinstrument wird sich verstärken. das wird die politik immer mehr nutzen, so bald sie merkt, dass es da einen background gibt. was die politik selber verantwortlich tun muss – was die cdu endlich mal lernen muss – ist, dass wir volksentscheide ins grundgesetz einfügen. und zwar nicht nur, um der bevölkerung die möglichkeit zu geben gegen eine türkische mitgliedschaft in der eu abzustimmen – das könnten wir jetzt schon machen. wir brauchen – wie auch an ganz anderen vielen stellen – einen lernprozess bei der cdu. das ist das dramatische und schwierige: die republik lässt sich immer nur so weit reformieren, wie die cdu bestimmte dinge gelernt hat. sie hat in dieser wahlperiode zum glück, bevor frau von der leyen zensursula wurde, wichtige, notwendinge dinge mehrheitsfähig gemacht. meine große hoffnung ist, das vielleicht in der nächsten wahlperiode auch die frage von volksentscheiden möglich wird. das ist in meinem empfinden viel wichtiger, als dem internet stärkere politische mitbestimmungsmöglichkeiten zu geben.

wie hoch rechnen sie die chancen der bundes-spd? wo könnte es sich einpendeln?

also wir wollen deutlich über 30 prozent. das wird wohl eher schwierig sein. wenn man die zustimmung im parlament für gute sozialpolitik nimmt, dann liegt man schon jetzt deutlich über 50 %. und sie wird im neuen parlament noch weiter über 50 % liegen, ist aber nicht koalitionsmäßig realisierbar – und das ist tragisch.

das interview habe ich bereits im juli in berlin geführt. bin aber erst jetzt dazu gekommen, es aufzubereiten und zu verschriftlichen. ich würde mir wünschen, dass es noch mehr solcher offenen politiker geben würde. wäre herr reiche abgeordneter meines wahlkreises, ich hätte ihm meine erststimme gegeben, denn einen direktkandidaten von den piraten gibt’s in steglitz-zehlendorf nicht… 😉

update 30.09.: auch in österreich beginnt jetzt komischer weise diese sinnlos-diskussion über netzsperren… mehr dazu in georgs blog.

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